IT Doesn't Matter - Eine Antwort mit Gegenentwurf (german)
„IT Doesn’t Matter“. Mit diesem Artikel machte 2003 der renommierte Autor und Journalist der Bereiche Technologie, Wirtschaft und Soziologie, Nicholas Carr, in der Ausgabe R0305B des Harvard-Business-Review auf ein weitverbreitetes Phänomen bei der Investition in IT-Ressourcen aufmerksam – das die reine Beschaffung, Installation und Übersetzung von bestehenden Strukturen in die digitale Welt eben keine Wunderheilung einer Organisation sein würde, sondern sich nicht anders als andere Infrastrukturrevolutionen wie bspw. der flächendeckenden Ausbau
von Schienen oder Stromtrassen unterscheiden würde.
Bis zur Veröffentlichung seines Buches „Does IT Matter“ etwa ein Jahr nach dem Artikel im Harvard-Business-Review, gab es mannigfaltige Reaktionen auf den diskussionswürdigen Artikel, dessen Titel die Gemütslage der platzenden Dotcom-Blase so eindrucksvoll unterstreicht.
Besonders spannend und in einigen Aspekten der Zeit voraus ist eine direkte Antwort auf den damals veröffentlichten Beitrag Carrs, des amerikanischen Forschers John Seely Brown (auch JSB genannt) und John Hagel. JSB pflegt dabei unter anderem enge Verbindungen zur Universität von Southern California und ist unter anderem Ko-Vorsitzender des Edge’s Centers Deloittes (das wiederum von Hagel gegründet wurde) – eine Einheit, die sich vor allem mit transformatorischen Vorgängen besonders visionärer Ideen auseinandersetzt. Derweil bringt John Hagel mit der Gründung mehrerer Technologie-Unternehmen, als Management Consultant und als mehrfacher Autor zu Technologie-Themen ebenfalls einen großen Schatz an Erfahrungen in der Bewertung und Erprobung von in die Zukunft gewandten Themen mit sich.
Im Zuge ihres Beitrages befassen sich die Autoren vor allem mit der Meta-Ebene der von Carr getätigten Aussage, IT würde sich als Technologie nicht großartig von vorangegangenen Infrastrukturrevolutionen unterscheiden und sei damit nicht vielmehr als der zukünftige Unterbau weiterer Entwicklungen, die sich allerdings nicht großartig aus der Informationstechnologie ergeben würden. Dabei wird dargelegt, dass Investitionen in IT-Ressourcen um die 2000er-Wende und dem damals vorherrschenden Expansionsdrang zahlreicher Unternehmen nach einem lang anhaltenden Hype unter anderem wegen ausbleibender und direkter Erfolge durch die Beschaffung und Übersetzung bspw. bestehender Prozesse in die digitale Welt ausblieben. Besonders grafisch zeichnete sich diese Situation am Aktienmarkt ab, in der Unternehmen ihren eigenen Wachtsumserwartungen nicht durch technologische Revolutionen entsprechen konnten. Diese Dynamik, die heutzutage rückwirkend weitläufig als Dotcom-Blase bekannt ist, zeigt einerseits die hohen Erwartungshaltungen in die Informationstechnik, allerdings auch das fehlende Verständnis der Möglichkeiten und im Umgang dieser Technologie im unternehmerischen Kontext.
Bei näherer Auseinandersetzung des Artikels „IT Doesn’t Matter“ sei vor allem das wesentliche Problem der strikten Trennung zwischen fachlicher, branchenorientierter Unternehmensstrategie und der, soweit vorhanden, IT-Strategie bzw. den IT-Investitionen auffällig. IT wurde, wie durch Carr beschrieben, vor allem als eine Art harte Ressource wahrgenommen, von der man nur genug kaufen müsse, um sich mit Effizienzgewinnen wieder an die Spitze der eigenen Nische zu katapultieren. Fehlerhaft an dieser Annahme war neben bereits seit Jahren fallender Preise für Transistoren sowie Speichermedien und entsprechend höherem Investitionsniveau direkter Mitbewerber, die Vernachlässigung der kunden- bzw. branchenspezifischen Unternehmensstrategie. Ein Unternehmen, was vor umfangreichen IT-Investitionen bereits durch falsche Entscheidungen angeschlagen war, würde nur schwerlich durch die flächendeckende Einführung neuer IT-Systeme signifikante Marktanteile wiedergewinnen.
Entgegen dem Gedanken, Informationstechnik als autonome und unternehmensweit einheitlich zu nutzende Ressource zu betrachten, entfalten sich Einsatzmöglichkeiten dieser Technologie gerade durch die mannigfaltigen Herausforderungen und unterschiedlichen Szenarien einer Organisation. Brown und Hagel stellen bereits 2002 fest, dass IT durch rapid fallende Kosten in der Herstellung und der rasanten Weiterentwicklung in Bezug auf Rechenleistung sich auf fundamental andere Weise weiterentwickeln könne und somit grundlegend anders eingesetzt werden kann als bekannte Technologieträger wie die von Carr erwähnten Schienennetzwerke oder Stromtrassen. IT könnte im Gegensatz zu diesen eben nicht nur als Beschleuniger bestehender Strukturen verwendet werden und somit einzig der Steigerung von Effizienz der Menge und Zeit an Prozessdurchläufen bestehender Strukturen dienen, sondern biete das Potenzial, originär neuen Mehrwert durch gänzlich neuartige Produkte, Organisationsformen oder Kundeninteraktionen zu schaffen.
Diese Potenziale auszuschöpfen, setze allerdings ein erhöhtes Maß Veränderungs- sowie Risikobereitschaft voraus, indem sich eine Organisation nicht nur neuen Veränderungen hingeben müsse, sondern auch kontinuierlich an kreativen Ideen zur Schaffung neuer Anwendungsmöglichkeiten der Informationstechnologie arbeiten würde. Als isoliert eingesetzte Ressource könnte IT keine bemerkenswerten Umbrüche in einem Unternehmen oder gar einer ganzen Branche schaffen – besonders solche nicht, die eine Organisation von Mitbewerbern abheben würden. Diese Einschätzung verdeutlicht die Weitsicht Browns und Hagels hinlänglich möglicher Anwendungs- und Adaptionsmöglichkeiten der Informationstechnik in Unternehmen, sodass zielsicher auf Entwicklungen, die heute, Jahre später, ungeahnte Geschäftsmodelle, wie wir sie von bekannten Streaming-Diensten wie Netflix oder Spotify kennen - die das gesamte Konsumverhalten im Umgang mit Medien und Daten verändert haben - hingedeutet wird.
Eine zentrale Komponente im IT-Management eben solche Entstehungsprozesse zu begünstigen, ist eine möglichst offene Veränderungskultur – die laut Brown und Hagel eine wichtige Voraussetzung zukünftiger Marktbehauptung sein würde, damit sich das Kerngeschäft im Rahmen seiner Branche entsprechend in umsetzbaren Inkrementen stetig weiterentwickeln würde. Organisationen, die ihre individuelle Unternehmensstrategie mit IT-strategischen Ansätzen vereinigen wollten, sollten eben diese beiden Bausteine stetig weiterentwickeln und somit zu kontinuierlicher Weiterentwicklung der Organisation, der eigenen Leistungsangebote und anderer Strukturen bereit sein. Kleine, aber stetige Veränderungen dieser Art zum Teil der eigenen Unternehmenskultur zu machen, würde den Weg ebnen, mit einer verhältnismäßig geringen Risikobereitschaft bspw. innovative Ideen und Projekte fortlaufend zu fördern, sodass Unternehmen sich selbst sowie auch die gesamte Branche aus sich heraus weiterentwickeln, im besten Fall eine führende Position am Markt einnehmen könnten und in allen anderen Fällen selbst keine großen technischen Schulden aufbauen und handlungsfähig bleiben, sollte sich aus dem Markt heraus ein noch unerwarteter neuer Trend ergeben, auf den man selbst später reagieren müsse.
Die beständige Investition in neuartige Projekte und die Weiterentwicklung der Organisation verspricht über das Aufrechterhalten der Handlungsfähigkeit zum einen aus Sicht des Veränderungsmanagements eine höhere Akzeptanz von Mitarbeitenden, Kunden und Partnern – im Gegensatz zu einem „Big-Bang“, der in großen zeitlichen Abständen erfolgt – zum anderen lässt die Kontinuität des Fortschreitens das Potenzial von IT weiter entfalten, da neue Ideen aktiv verfolgt werden und Hand-in-Hand mit den entsprechenden Branchenspezifika gedacht werden. Der Einflussbereich monolithisch gemanagter und fachlich abgekoppelter Technologien hingegen hätte kaum eine Chance, bestehende Arbeitsschritte, Geschäftslogiken und Mehrwerte weiter bzw. neu zu entwickeln. Eine Verzahnung von IT-Strategie mit der branchen-orientierten Unternehmensstrategie, die sich Hand-in-Hand inkrementell weiterentwickeln und neue Ideen sowie Innovationen erproben, seien somit zur zukünftigen Marktbehauptung unerlässlich.
Anfang der 2000er-Jahre mit Platzen der Dotcom-Blase, nachdem Unsummen in die neue vielversprechende Technologie der Informationstechnik investiert wurde, war der Erfahrungswert an großen IT-Projekten offensichtlich bedeutend geringer als heute – sodass die allgemeine Erwartungshaltung an die Einführung und in das Investment neuer Technologien sehr stark auf einen direkten positiven Beitrag dieser gelegt wurde. Glaubt man Zahlen wie von großen Beratungshäusern wie der Boston Consulting Group, Mc Kinsey & Company oder dem Marktforschungsinstitut Gartner, scheitert ein überwältigender Anteil großer IT-Vorhaben (damals und heute) an ihrer Komplexität, sodass die Planbarkeit des direkten Gewinnes eines solchen unfassbar schwer abzusehen ist. Brown und Hagel erkennen dieses Phänomen und folgern daraus, dass in Zukunft ein gut gemanagtes Unternehmen Personen in hohen Führungspositionen dringend neben einem tiefen Branchenverständnis ebenso ein breites Wissen in Sachen Informationstechnik haben sollten. Entscheidungen würden sich daraufhin weniger an Werbekampagnen großer IT-Dienstleister orientieren, sondern vielmehr mit einer geschulten Erwartungshaltung an technologische Möglichkeiten die eigene Organisation langfristig stärken.
Dieser Gegenentwurf der beiden Autoren, IT würde damals großflächig als Allheilmittel missverstanden und müsse vielmehr inkrementell gemeinsam mit einer branchenspezifischen Unternehmensstrategie Hand-in-Hand Wege in die Zukunft weisen, ist eine Analyse, die auch heute – knapp 20 Jahre später – erschreckend relevant zu sein scheint. Ein übergeordnetes IT-Management zu schaffen, das gezielt die Erprobung innovativer Ideen begünstigt und die Unternehmenskultur sowie die Unternehmenslogiken gemäß dem Marktgeschehen und technologischen Fortschritten weiterentwickelt sind Überlegungen, die der damaligen Realität des Marktes weit voraus sind.
Ideen, die einem IT-Manager von heute keine fremden Ansätze sind.